N. Wiedenmann: Revolutionsfotografie im 20. Jahrhundert

Cover
Title
Revolutionsfotografie im 20. Jahrhundert. Zwischen Dokumentation, Agitation und Memoration


Author(s)
Wiedenmann, Nicole
Published
Extent
555 S.
Price
€ 42,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Anne Vitten, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Dass Fragen zu Funktionen von Bildern zu wenig Berücksichtigung in historischen Diskursanalysen fanden, obwohl sie Aussagen zu bestimmten Themen systematisch zu organisieren und zu regulieren vermögen, war Anlass für die 2011 abgehaltene Tagung „Bilder in historischen Diskursen“. In dem 2014 erschienenen Tagungsband sprach sich Silke Betscher für eine visuelle Diskursanalyse aus, die es ermöglicht, Fotografien untereinander und ohne die sie begleitenden sprachlichen Ausdrücke zu untersuchen.1 Die Medienwissenschaftlerin Nicole Wiedenmann verfolgt einen daran angelehnten Ansatz, indem sie Fotografien aus unterschiedlichen Kontexten auf übergreifende Bildtopoi untersucht. In ihrer Monografie äußert sie ein theoretisch-systematisches Erkenntnisinteresse und fragt nach Funktionen von Fotografien in revolutionären Kontexten.

In einem den vier Kapiteln vorangestellten Prolog erläutert Wiedenmann ihr Vorgehen und ihr Quellenkorpus und führt den von ihr gewählten Begriff der „Revolutionsfotografie“ ein, unter den sie Fotografien aus unterschiedlichsten Entstehungskontexten fasst. Als Auswahlkriterium benennt sie den Moment der Zirkulation, ohne dabei Gattungsgrenzen zu setzen. Es handelt sich also um öffentlich verfügbare Bilder, die in Zeitungen, Zeitschriften, Fotobüchern etc. publiziert wurden.

Eingedenk dessen, dass unterschiedliche historische, gesellschaftliche, politische und kulturelle Kontexte verschiedenartige Revolutionen produzieren, widmet sie ihr erstes Kapitel einer Begriffsbestimmung von „Revolution“. Sie stellt dabei heraus, dass ihre Arbeit den Fokus auf einen politischen und nicht auf einen wissenschaftlichen Revolutionsbegriff legt, also auf die Veränderung/den Umsturz bestehender Herrschafts- und Machtverhältnisse. Wiedenmann arbeitet die Verwendung des Begriffs als diskursive Strategie heraus, die als eine Art Selbstermächtigungsformel zur Legitimierung kollektiver Handlungen dient. Sie betont zudem die temporale Ambiguität des Revolutionsbegriffes, der gleichzeitig das Ereignis-, aber auch das Prozesshafte in sich trägt.

Im zweiten Kapitel werden Revolutionen als Gegenstand der Kultur- und Medienwissenschaften behandelt. Ausgehend von einer allgemeinen Kulturtheorie generieren sich Revolutionen, so die These, „durchgehend aus einem Konglomerat komplexer und interdependenter Strukturen zwischen den Bereichen des Diskursiven, des Performativen und des Medialen“ (S. 63). Wiedenmann spricht sich für eine Herausarbeitung dieser Kommunikationszusammenhänge aus und gegen hegemoniale Ansprüche verschiedenster „turns“ der letzten Jahrzehnte. Mit einem Exkurs zur „Theatralität der Französischen Revolution“ und in Anlehnung an die Bezeichnung „Mutter aller Revolutionen“ benennt sie den spezifischen Bilderkanon der Pariser Kommune als „Mutter der Revolutionsfotografie“ (S. 119). Einige Fotografien der Kommune wären ohne die Bildproduktion der Französischen Revolution, und hier vor allem ohne das 1830 entstandenen Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix, nicht vorstellbar gewesen. Andere Bildtopoi, wie zum Beispiel das Barrikadenmotiv, prägten selbst wiederum nachfolgende revolutionäre Ereignisse.

Revolutionsfotografie als Instrument der Dokumentation, Memoration und Agitation ist Thema des dritten Kapitels. Wiedenmann arbeitet dabei heraus, inwiefern Zeichenkategorien (Ikon, Index, Symbol) die Funktionalisierung von Fotografien in dem von ihr aufgemachten Funktionsspektrum unterstützen. Sie betont, dass das gleichzeitige Vorhandensein der drei Funktionsfelder allen Revolutionsfotografien innewohne: Jede Fotografie einer öffentlichen politischen Aktion hat Dokumentationscharakter und kann zu Memorationszwecken herangezogen werden. Durch ihre Verbreitung enthält sie ein Agitationspotential, ob für die Gegner/innen einer Revolution oder ihre Befürworter/innen – dies macht sie auch ambivalent. Die Autorin führt aus, dass die Arbeiter- und Suffragettenbewegung durch ihren kalkulierten Einsatz von Kleidung, Gestik und Mimik „als Initiatoren, als Ausgangspunkt für den bewussten und strategisch kalkulierten Einsatz der Kamera als Waffe im revolutionären Geschehen verstanden werden [können]“ (S. 211).

Das vierte Kapitel ist mit etwa 280 Seiten das stärkste. Wiedenmann führt überzeugend in verschiedene Aspekte der Fotografien ein, erläutert die Zusammenhänge zwischen Revolution und Mythos, blickt auf den Körper der Revolution und bettet ihre Betrachtungen in den Massendiskurs ein. Sie analysiert Darstellungen von Revolutionsführern, Denkmalstürzen und anonymen Einzelkämpfern. Als Ziel benennt sie das Erstellen einer „Kartografie“ der visuellen Rhetorik in Revolutionsfotografien, die sie mit der Methode der historischen Diskursanalyse herausarbeitet.

Die Analyse der Fotografie Alberto Kordas von 1960, die Ernesto „Che“ Guevara zeigt, ist die detaillierteste. Wiedenmann beschreibt die Genese des Bildes von einem Symbol einer globalen Protest- zur Popikone, zu der die massenhafte Verbreitung durch den italienischen Verleger Giangiacomo Feltrinelli ab 1967 beitrug. Sie liefert bei dieser Analyse nicht nur Hintergründe zum Entstehungskontext, sondern auch zur nachträglichen Bearbeitung des Fotografen selbst (Beschnitt vom Quer- zum Hochformat) und des Künstlers Jim Fitzpatrick, der das berühmte zweifarbig-flächige Porträt Guevaras nach Kordas‘ Fotografie fertigte. Weiter wird das Schlüsselbild des Tiananmen-Massakers, der „Tank Man“ von 1989, seriell analysiert und verdeutlicht, welch unterschiedliche Wirkungen Standpunkte von Fotograf/innen, Beschnitte und Fokusse haben können und warum einige Fotografien „dichter“ sind als andere.

Wiedenmann schließt ihre Ausführungen mit einem Epilog. Sie spricht sich für eine Subgattung „Revolutionsfotografie“ aus, „die quer zu der Basisdifferenz von dokumentarischer oder Kunstfotografie operiert“ (S. 510) – diese Definition bleibt zu diskutieren, verschwimmen doch die Grenzen zwischen den vermeintlichen Polen zunehmend. Sie schließt mit drei Fotografien von August Sander, die laut Bildunterschrift Revolutionäre zeigen, aber nicht in die von ihr aufgemachte Kategorie zu passen scheinen, da sie keine Veränderung, sondern Stillstand, Unbeweglichkeit und zementierte Verhältnisse darstellen.

Obwohl sich das Bildverständnis, besonders in den Geschichtswissenschaften, in den letzten drei Jahrzehnten grundlegend verändert hat, werden an einigen Stellen der Arbeit längst überholte Arbeitsweisen von Historiker/innen beschrieben. Mit Ausnahme der zitierten Publikationen Gerhard Pauls2 bleibt der Eindruck bestehen, dass Historiker/innen am liebsten, wenn überhaupt, mit Fotografien arbeiten, „denen eine ‚Art Nullpunkt der Ästhetisierung‘ eingeschrieben“ sei (S. 192). Diese Darstellung wird rezenten Publikationen, vor allem im Bereich der „Visual History“, nicht gerecht.

Wie bereits eingangs erwähnt, verwendet Wiedenmann Fotografien, die in den verschiedensten medialen Kontexten zu verschiedenen Zeiten veröffentlicht wurden, lässt dabei aber weitestgehend die Bild-Text-Komponente sowie Datensätze der Fotografien außen vor. Diese Auslassung halte ich für problematisch, da gerade in Veröffentlichungskontexten die Verbindung von Bild, Bildunterschrift und Text Leser/innen und Betrachter/innen leitet. Die Autorin greift zum Teil dann doch auf Bilddatensätze zurück, „wenn es für die Wirkungsgeschichte von Bedeutung ist“ (S. 16f.). Sie stellt dabei selbst heraus, sich zur Analyse weicher Kategorien wie Wirkmächtigkeit, Verbreitungsgrad und Rezeptionsgeschichte zu bedienen, und räumt die Problematik des schwer messbaren Nachweises als methodische Schwierigkeit der Arbeit ein. Dennoch operiert sie häufig mit Formulierungen wie „hinlänglich bekannt“ oder „breite Öffentlichkeit“.

Ob es sinnvoll ist, eine Subgattung „Revolutionsfotografie“ einzuführen, bleibt zu diskutieren. Viele der angeführten Bildtopoi finden sich auch in Fotografien von Demonstrationen.3 Über das ausgewählte Bildmaterial untermauert Nicole Wiedenmann ihre Hauptthese, dass ihr Untersuchungskorpus von Fotografien „mit einem bestimmten Set an Bildtopoi kultur- und ideologieübergreifend operiert“ (S. 232). Sie überzeugt mit ihren Ausführungen, Revolutionen nicht nur als ökonomisch-soziale Phänomene zu betrachten, sondern als kulturelle Ereignisse mit eigener Symbolproduktion. Mit ihrer Monografie legt sie eine umfassende und theoretisch fundierte Forschungsarbeit vor, die Revolutionsfotografien als „Produktivkräfte“ bezeichnet, die revolutionäre Ereignisse und Prozesse sowie die sie vorbereitenden und reflektierenden Diskurse mitgestalten.

Anmerkungen:
1 Siehe: Franz X. Eder / Oliver Kühschelm, Bilder – Geschichtswissenschaft – Diskurse, in: dies. / Christina Linsboth (Hrsg.), Bilder in historischen Diskursen, Wiesbaden 2014, S. 3–44, hier S. 28.
2 Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, Göttingen 2008.
3 So warb das ZEITmagazin (Ausgabe 39, 19.09.2019, S. 46ff.) auf Instagram mit einer Fotografie von Gilles Peress für seine neueste Ausgabe. Über die Fotografie aus dem Jahr 1996 (auf S. 48 des Artikels) wurde der Titel „Zeiten des Zorns“ gelegt. Peress reiste in den 1990er-Jahren häufig nach Nordirland und fotografierte das zerrissene Land. Die angesprochene Fotografie zeigt jugendliche Demonstranten, die auf einer Umfriedung sitzen und stehen. Sie befinden sich vor einem britischen Staatsgebäude, vor dem sie die Flagge der irischen Republik schwenken. Der Bildaufbau ist pyramidal – alles Aspekte, die es, ohne Kontext, der Subgattung Revolutionsfotografie zuordnen ließen; vgl. https://www.zeit.de/zeit-magazin/2019/39/nordirland-brexit-gilles-peress-fotograf (09.12.2019).

Editors Information
Published on
Author(s)
Contributor
Classification
Regional Classification
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Country
Language of review